Zugegeben: Auf den Spuren von Frankenstein ist nicht ganz korrekt, da es sich hier zwar um einen wegweisenden Roman für die gesamte Phantastik (Fantasy und Science-Fiction) handelte, aber nicht der erste Gothic Roman war. Allerdings dürften die wenigsten Menschen Romane wie The Castle of Otranto oder Mysteries of Udolpho kennen.
Und die heutige Gothic Fantasy entstand auf jeden Fall aus den Stimmungen dieser frühen Romane des 18. Jahrhunderts. Aber sie prägten nicht nur Subgenres: In der Romantik und der daraus resultierenden Gothic Bewegung liegt mit der Ursprung des gesamten Phantastik Genres.
Gothic Literatur: Der Ursprung eines ganzen Genres
Wenn wir von den Beginnen der Phantastik sprechen, dann wird häufig Jules Verne mit seinen fantastischen Abenteuern genannt. Und natürlich Märchen, Mythen und Sagen. Dabei ist eine Strömung, die aus der Phantastik nicht wegzudenken ist und bis heute viele Romane beeinflusst, die Gothic Literatur. Sie entstand aus der Romantik, in der bereits Bücher mit gotischen und fantastischen Motiven auftauchten. Sie waren eine klare Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung, die den Glauben an das Übernatürliche in Form von Werwölfen oder Vampiren überwinden wollte.
Goethes Faust oder E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann sind Erzählungen der Romantik, die den Weg zur Gothic Literatur ebnen. In diesen Erzählungen treiben übernatürliche Elemente die Handlung voran und sorgen auch für leichten Grusel. Mit Castle of Otranto von Horace Walpole erschien 1756 dann der Roman, der heute offiziell den Beginn der Gothic Literatur einleitet. Das war also mehr als ein halbes Jahrhundert, bevor Jules Vernes überhaupt geboren wurde (was im Jahr 1828 der Fall war). Hier wird zum ersten Mal das unheimlich-übernatürliche ins Zentrum einer Erzählung gestellt, auch wenn Herr Lovecraft anmerkt, dass die Qualität zu wünschen übrig lässt. Doch schnell finden sich Nachahmer wie zum Beispiel eine Mrs Barbauld mit Sir Bertrand (1773) oder Clara Reeves mit “The old English Baron” (1777). Und dann kam Ann Radcliff, deren Romane “Schrecken und Spannung zur Mode machten und die Gestaltung makabrer und angsteinflößender Atmosphäre neue und höhere Maßstäbe setzte”. Dieses Zitat stammt von Lovecraft und vielleicht ist euch schon etwas aufgefallen: Der gothische Roman wurde von Frauen geprägt in einer Zeit als Frauen ziemlich wenig zu sagen hatten. Auch die Bronte-Schwestern, Regina Maria Roche und natürlich die Schöpferin von Frankenstein, Mary Shelley, gehören in die Reihe von Autorinnen, die gothische Romane schreiben und somit das Übernatürliche in Erzählungen prägten. Für den gotischen Roman zählten eine düstere Romantik, eine Ästhetik von verfallenen Schlössern und Friedhöfen sowie unterschwelliger Grusel und die Angst vor dem Übernatürlichen. Während jedoch in der Gothic Literatur das Unheimliche nicht immer einen fantastischen Ursprung hat, verbindet die Gothic Fantasy die Stimmungen der frühen gotischen Romane mit fantastischen Kreaturen und Vorkommnissen. Sehr früh waren natürlich Vampire und Werwölfe dabei, die bis heute das Genre prägen.
Schrecken abseits des Horrors
Schon zur Zeit der Gothic Literatur gab es eine Unterscheidung zwischen Gothic und Horror. Im deutschen wurde und wird diese Literatur mit Schauerliteratur übersetzt, was irgendwie nicht so cool klingt wie Gothic Literature, aber vielleicht bei der Unterscheidung helfen kann: Denn Gothic Romane sind für den sanften Grusel zuständig, jagen einem einen Schauer über den Rücken. Aber sie sorgen nicht für Angst. Sie spielen mit Elementen der Angst, versetzen den Leser aber nicht in Angst und Schrecken. Oft bekommt
Das Cambridge University Dictionary erklärt den Unterschied so: Horrorliteratur bedeutet, „ein starkes Gefühl der Angst und des Schocks zu erzeugen“, während Gothic „Schriften oder Filme, in denen seltsame Dinge an beängstigenden Orten geschehen“ bezeichnet.
Oft sind es in gotischen Romanen die menschlichen Ängste, die die Hauptrolle spielen, der Verursacher der Angst bleibt häufig unsichtbar. Auch Psychologie spielt eine große Rolle und oft wird offen gelassen, ob die Furcht aus einer geistigen Krankheit oder einem übernatürlichen Gegenspieler entsteht.
In der Anfangszeit wurde Gothic Literatur tatsächlich als niedere Literatur angesehen, da sie hauptsächlich Frauen ansprach und für den leichten Grusel zuständig war, häufig mit tragisch endenden, romantischen Verwicklungen. Vermutlich wollten die Herren bloß nicht zugeben, dass sie diese Literatur ebenso begeisterte. Sonst hätte Bram Stoker wohl kaum Dracula geschrieben.
Die Unterschiede zwischen Dark Fantasy und Gothic Fantasy
Auf den ersten Blick könnte man denken, beide Genres wären identisch. Allerdings gibt es große Unterschiede. Zum ersten ist Dark Fantasy als Marketingbegriff vor einigen Jahren entstanden, um Fantasy abzugrenzen, deren Handlung und vor allem Charaktere düsterer sind, als in der klassischen Fantasy. Häufig sind moralisch graue Charaktere vertreten, die grenzüberschreitend agieren. Hier spielt auch die Ästhetik keine direkte Rolle, wobei Beschreibungen häufig brutaler sind und dem Horrorgenre näher stehen. Gothic dagegen spielt mit subtilen düsteren Noten, ohne verstören zu wollen.
Vielleicht wird sich in den nächsten Jahren Dark Fantasy als echtes Genre etablieren, aktuell wirkt es eher als Pendant zu Hard/Soft Scifi, also als Entscheidungshilfe, wie “hart” die enthaltene Fantasy ist bzw. wie sehr ab 18. Daher könnte sowohl ein Gothic Fantasy unter die Rubrik Dark Fantasy fallen, aber ebenso eine High Fantasy Story.
Gothic Fantasy steht folglich für feste Tropes wie Gothic Atmosphäre, Tragik, Romantik (im Sinne der literarischen Epoche), Herbst-Stimmung und Übernatürliches.
Dark Fantasy ist ein Hinweis, wie explizit manche Beschreibungen sind und wie düster die Gesamthandlung ohne auf ein bestimmtes Genre oder eine Atmosphäre festgelegt zu sein (Tatsächlich könnten wir hier eine Brücke zur Schwarzen Romantik schlagen, aber das würde zu weit führen).
Ästhetik der Gothic Fantasy
Die Ästhetik von Gothic Fantasy zu beschreiben gelingt am leichtesten, wenn wir einen kurzen Ausflug in die Welt des Gaming und der Soulslike Spiele machen. Und die Monster abziehen, die da hinter jeder Ecke lauern. Verlassene Ortschaften, überwucherte Friedhöfe, alte Schlösser. Geheimnisse im Nebel und fallendes Herbstlaub. Eine Landschaft, die sich unserem Zugriff erzählt und ihre Mysterien bewahrt. Nicht umsonst enthält der Name Gothic Fantasy den Architekturstil Gotik im Namen. Zur gleichen Zeit gab es eine Renaissance von mittelalterlichen Baustilen, die die düstere Faszination unübersichtlicher und einschüchternder Gebäude wieder aufnahm. Eine Erinnerung an das dunkle Mittelalter und die starken Emotionen, die Bauwerke wie Kathedralen auslösen können. Das spiegelt sich in den Schauplätzen dieser Literatur wieder und auch in den Stimmungen. Eine leichte Melancholie des nahenden Herbstes weht durch die Seiten der Gothic Fantasy.
Unsere Gothic Fantasy Leseempfehlungen
Wenn wir ganz vorne bei der Gothic Literatur anfangen, würde ich euch jede der einzelnen Autorinnen ans Herz legen, angefangen mit Ann Radcliff. Dazu würde ich noch Christina Rossetti mit dem epischen Gesicht Goblin Market legen und natürlich die Bronte-Schwestern oben drauf setzen, in der Annahme, dass ihr alle bereits Frankenstein gelesen habt und ich das nicht mehr empfehlen muss. Andererseits habe ich einen Magister in Anglistik und kriege feuchte Augen, wenn ich ein Buch der genannten Autorinnen im Antiquariat entdecke (Diese Frauen sind meine Heldinnen!). Aber mir ist klar, dass nicht jeder Mensch eine Schwäche für Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die sprachliche Stilistik jener Zeit hat. Dennoch würde ich sagen, Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde sowie Dracula von Bram Stoker sollte jeder, der sich für das Genre interessiert gelesen haben.
Neueren Ursprungs, aber überaus lesenswert für alle Genre Begeisterten ist Interview mit dem Vampir von Anne Rice. Der erste Siegeszug der Vampire in der Neuzeit (Twilight würde ich beispielsweise auf gar keinen Fall in die Gothic Fantasy einsortieren. Zu viel Tageslicht und Gefunkel). Im WunderZeilen Verlag gibt es mit Wie Schatten in der Dämmerung unseren ersten Gothic Fantasy Roman, mit dem Laura May Strange es meisterhaft versteht die herbstlich-düstere Atmosphäre des klassischen Gothic Romans mit fantastischen Elementen zu verweben. Wie Schatten in der Dämmerung ist der Start einer Gothic Fantasy Trilogie, die sich perfekt für alle eignet, die in das Genre einsteigen wollen.
Quellen:
Lovecraft, H.P.: Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der Phantastik. Suhrkamp 1995.
Vandermeer, Jeff: Wonderbook. The illustrated Guide to creating imaginative Fiction. Abrams Image 2013.
Comments